Spaziergang nach Syrakus im Jahr 2017, ein kleiner Auszug...
This is a little excerpt from my planned book. Unfortunately, I do not think that I'll be able to translate it adequately into English, but it tells the story how Robert and Bernd get drunk on a Pfälzerwaldhütte in the forest and talk about a "stroll to Syracuse" for the first time. The year is 2013 and it will take them four more years to get started, but in 2017, they'll take off...
Robert ist in die
Hütte gegangen, Nachschub holen, und solange er weg ist, ziehe ich an meinem
kubanischen Zigarillo und schaue hinaus in die Ebene. Ich gönne mir nicht mehr viel
Luxus dieser Tage, Bücher bestelle ich meist gebraucht (das Internet ist ja voll
von billigen und billigsten Angeboten ab einem Cent plus Versandkosten), außerdem
fahre ich ein sehr kleines Auto, neue Kleider kaufe ich selten, und meinen Wein
beziehe ich aus dem Supermarkt oder von meinem Lieblingswinzer in Sankt Martin,
gleich gegenüber dem kleinen Häuschen mit dem großen Garten, das ich 1987
gekauft habe und das Schröder – Möge der Blitz ihn beim Scheißen treffen! – 1993
so liebevoll renoviert hat und nun mit Karoline bewohnt. Aber zwanzig Euro gebe
ich zwei- bis dreimal die Woche für meine Cohiba
White Club aus, und sie sind es mir wert. Ich rauche die ersten zwei, drei
Züge auf Lunge, danach begnüge ich mich mit Paffen. Kühl und erdig dringt der
Rauch in meine Lungen ein, warm und rau kommt er wieder heraus, und ich räkle
mich in der Sonne und genieße den Augenblick. Robert muss wohl lange anstehen,
obwohl die Mittagessenszeit eigentlich schon vorbei ist. Ich inhaliere noch ein
viertes Mal sehr tief und fühle mich angenehm schwer und ein kleines bisschen
schwindlig. Die Sonne wärmt mir Arme und Gesicht, wer weiß, vielleicht bekomme
ich Mitte September sogar noch einen Sonnenbrand. Meine Freundschaft zu Robert
Meyer, so habe ich gerade ausgerechnet, jährt sich am Jahreswechsel zum
siebenunddreißigsten Mal. Haben wir uns in diesem Zeitraum auch nur sporadisch
gesehen, uns eher selten Briefe oder E-Mails geschrieben, so hat sie doch die
Jahre, wie es aussieht, recht gut überstanden. Es herrscht ein Verständnis
zwischen uns, wie es wohl nur in sehr alten Kameradschaften vorkommt, dieselbe
Einmütigkeit, mit der wir uns damals in den Siebzigern an langen Nachmittagen
und Abenden von unserem jeweiligen Studium berichtet haben, die Vorzüge dieser
und jener Kommilitonin diskutierten oder gemeinsam durch die Stadt gezogen sind.
Nachdem er dann Isolde kennengelernt hatte, geriet unsere Freundschaft
naturgemäß ein wenig ins Hintertreffen, ganz verloren haben wir den Kontakt
aber nie. Ich habe ihn in den späteren Siebzigern mehrfach in Hamburg besucht,
und wenn er bei seinen Eltern in Mannheim war, hat er selbstverständlich auch bei
mir vorbeigeschaut. Auch während meiner Ehezeiten haben wir uns hin und wieder
getroffen, und während meiner sieben Jahre im Zaubertal blieben wir brieflich
in Verbindung, wir schrieben uns drei, vier Mal im Jahr, und manchmal fügte er
seinen Schreiben eine Erzählung bei oder auch eine CD von Isolde.
Der Zigarillo ist
ausgegangen, aber ein Feuerzeug ist ja unauffällig zuhanden. Ich krame es aus
der Tasche, zünde die kurze Cohiba,
gerollt von fröhlichen kubanischen Arbeiterinnen, wie ich annehme, unter
munterem Gespräch und Chorgesang aus der Oper Carmen, vorsichtig noch einmal an und paffe ein, zwei Züge, bevor
ich den Stummel ausgehen lasse und den Rest in die Büsche werfe. Ein Filter ist
ja nicht dran, alles ist rein organisch und biologisch abbaubar.
Siebenunddreißig Jahre... Ist die Zeit nicht ein ewiges Rätsel? Wenn einer in
schlaflosen Nächten durch ein vergittertes Fenster auf den Mond über dem Stacheldraht
schaut, sind acht Stunden bis zum Wecken eine kleine Ewigkeit; aber im
Rückblick aus dem Herbst des Lebens in die Zeit des Vernunfterwachens sind
siebenunddreißig Jahre plötzlich nur ein Klacks. Ich bin noch derselbe wie
damals, so kommt es mir vor, aber wenn sich der junge Koslowski von 76
plötzlich in diesem leicht übergewichtigen, schiefen und bei der geringsten
Anstrengung wie eine Dampflok schnaufenden Körper wiederfände, er würde wohl tot
umfallen vor Entsetzen. Und doch, ich fühle mich kaum anders als damals, denn
der sich da fühlt, ist ja der, der sich die ganzen Jahre in allen Situationen
und Veränderungen und in allen Aktionen gegen die Mitwelt als Identisches
durchgehalten hat und auf den sich heute wie früher als ein Eigenes und
Konstantes die ganze Vielfalt der Welt bezieht. Und auch die Anderen beziehen sich
auf ihn, wenn sie etwa Guten Morgen, Herr
Koslowski sagen oder auch: Hasch du
des Programm für die Motorewerke nochmal anschaue könne? Die Anderen sind
der Spiegel, sie sind das Korrektiv und Bestätigung zugleich. Immer sind die Anderen
schon da, und wenn sie einmal nicht da sind, ist es auch nicht recht. Da ist ja keine Sau nicht drin, pflegte
Karoline zu mäkeln, wenn wir ein völlig leeres Restaurant betraten. Waren
dagegen nur noch wenige Tische frei, so grummelte sie: Mei, ist das voll hier! Wie es ist, ist es verkehrt, und heute wäre
es sicher ganz verkehrt, denn heute ist es richtig voll, Neuankömmlinge haben
kaum noch eine Chance, einen Platz im Freien zu ergattern. An meinem Tisch
spricht man laut und auf Pfälzisch; eine Vierergruppe weißhaariger Pensionisten,
die Männer in Knickerbockern und karierten Wanderhemden, die Frauen trotz der
Wärme in reißverschlussgeschlossenem Fleece. Man ist, was nur recht und billig
ist an so einem schönen Tag und in so einer schönen Umgebung, der allerbesten
Laune und gibt sich der Entspannung hin. Die Jugend wird, bei allen
erstaunlichen Computerkenntnissen, die sie besitzt, unseren kulturellen
Standard nicht halten können. Diesen letzten Halbsatz fanden ja schon die
Assyrer wert, auf Tonscherben festgehalten zu werden, und auch in Ägypten
findet er sich in den entsprechenden Hieroglyphen. Man hat es also schon immer
gewusst. Die Butter ist wieder teurer geworden, und auch die Schorle auf der
Hütte war schon einmal billiger, früher drei Mark fünfzig, heute drei Euro zwanzig.
Der Euro ist ein Teuro, da kann die Kanzlerin sagen, was sie will. Man wird aber
trotzdem, wie immer, die CDU wählen. Igitt, wenn das mein Vater wüsste, der eingefleischte
Sozialdemokrat! Man spricht vom Essen, vom Urlaub, den Kindern, den allernächsten
Alltagsdingen und ist der Vergessenheit ergeben, was die conditio humana betrifft. Man kümmert sich nicht darum, dass das
Dasein aussteht ins Nichts wie eine kurze Brücke zwischen zwei dunklen Klüften,
sondern man versichert sich, dass die Reise noch lange geht, dass das Leben
fest gefügt und ein leichtes ist. Braucht man sich doch nur an das zu halten,
was sich gehört, was man tut und was man lässt, an die ganze
Durchschnittlichkeit, und das Dasein wird plötzlich einfach in seiner banalen Alltäglichkeit.
Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Seinsauslegung ist geregelt, man gehört
zu der Mehrheit und man hat in allem recht. So isst man und trinkt man und
redet laut und überlässt sich fröhlich der vergnügtesten Seinsvergessenheit.
Und das ist auch gut
und schön so. Auch wenn ich nach ein paar Worten der Begrüßung und allgemeiner
Bemerkungen über das Wetter deutlich angezeigt habe, dass mir die Kontemplation
der Landschaft wichtiger ist als ein Alltagsgespräch, so lasse ich mich doch gerne
mittreiben im Getriebe samstäglicher Entspannung, verbringe die paar Stunden
mit der alleinigen Sorge um die nächste saure Schorle, und die wird Robert bestimmt
gleich bringen. Ich trinke den Rest der vorhandenen aus; sie ist warm und schal
geworden. Wie jeder halbwegs vernünftige Mensch hasse ich den Zustand der
Volltrunkenheit. Den Zustand davor aber, die Leichtigkeit, die der Alkohol
hervorbringt, die vermeintliche Helle, mit der die Welt dann ins Bewusstsein
dringt - diesen Zustand liebe ich. Ganz besoffen bin ich selten, „beschickert“
aber eher oft. Ich schaue hinaus in die Ebene und lasse die Vielfalt der
Erscheinungen auf mich einwirken. Es ist ein vertrautes Bild, ich weiß, wo
Edenkoben liegt, wo Bruchsal ist und wo Mannheim, die Bühler Höhe, die
Hornisgrinde, und staune trotzdem immer wieder, wie fremd und unnahbar alles bleibt.
Die Welt ist ein Gehirnphänomen. Weiter bin ich auch heute, in meinem
einundsechzigsten Jahr und nach über vier Jahrzehnten Beschäftigung mit der Philosophie,
nicht gekommen. Den Physikern, so mein völlig unwissenschaftlicher und rein
subjektiver Eindruck, zerfällt die Realität unter den Händen in immer kleinere
Teilchen, wird immer abstrakter, bis sie vielleicht tatsächlich nur noch aus
Gedanken besteht, verstehbar für einen kleinen Kreis von mathematisch und
physikalisch Hochbegabten - verstehbar vielleicht, aber nicht mehr erfahrbar. Die
Welt ist durchdrungen vom Nichts, wie alles, womit sich der Mensch beschäftigt.
Ich habe ein paar populärwissenschaftliche Bücher gelesen und darin nur bestätigt
bekommen, dass das Nichts allgegenwärtig ist. Würde man den Kern eines
Wasserstoffatoms (etwa aus den paar Tropfen Flüssigkeit, die sich noch in
meinem Glas befinden) auf einen Meter Durchmesser vergrößern, so wäre sein
zugehöriges Elektron irgendwo hinter Frankfurt oder weit hinter Kaiserslautern,
beziehungsweiße hundert Kilometer in der Luft oder im Boden, man kann ja nicht
einmal den Ort genau bestimmen. Und zwischen Proton und Elektron ist das schiere
Nichts, die Leere, die überall herrscht: Das ist die Situation des Menschen,
die Welt, und alles menschliche Denken, davon bin ich überzeugt, ist davon
geprägt, von einem Dasein, das aus dem Nichts kommt, vom Nichts durchdrungen
ist und wieder im Nichts vergeht.
„Die sind da drin noch verrückter als du.
Ich hoffe, wir haben noch Sprudel.“
Ich habe Roberts
Kommen gar nicht bemerkt. Er hat ein großes, viereckiges Tablett auf den Tisch
gestellt, darauf zwei frische Schorle, eine Portion Schwartenmagen mit zweimal
Besteck und Brot und zwei Päckchen Senf dazu. In der Schorle, sagt er, befinde
sich kaum Sprudelwasser. Offenbar müsse der Pfälzer Waldverein am sauren Wasser
sparen. Er setzt sich, teilt das Besteck und die beiden Getränke aus, und wir
schlagen die Gläser aneinander. Dieses Mal blick er mir dabei in die Augen, man
will ja nichts riskieren. Wir trinken je einen kleinen Schluck, und ich fülle
die Gläser mit Mineralwasser wieder auf. Robert belegt zwei Brote mit
Schwartenmagen, wir nehmen je eins, bestreichen es mit Senf, ich drücke noch ein
paar Gurkenscheiben hinein, beiße ab und kaue.
„Ich habe eine tote Wissenschaft studiert“,
sage ich mit vollem Mund, „so tot wie die Astrologie, die Schädellehre oder die
Alchemie. Die Erklärung der Welt obliegt heute ganz den Naturwissenschaften. Schau
dir den Baum dort an! Eine feste Struktur, die hart ist und lichtundurchlässig.
Man kann einen Anlauf nehmen und sich den Schädel daran einrennen. Trotzdem
besteht er zum allergrößten Teil aus leerem Raum, in dem sich ein paar Teilchen
nach physikalischen Gesetzen tummeln. Geronnene Energie, wie der Kollege Willy
sagt. Die Welt ist wahrscheinlich nichts weiter als ein paar mathematische
Formeln, hineingeschrieben in einen Hintergrund aus Nichts.“
„Die Welt ist alles, was der Fall ist“, sagt
Robert kauend, hundert Jahre Philosophiegeschichte munter durcheinander
werfend, „das Leben ist eine missliche Sache, und ich habe mir vorgesetzt, das meinige
damit hinzubringen, selbiges möglichst exakt zu beschreiben.“
„Die Welt ist hineingeschrieben in einen
Hintergrund aus Nichts“, beharre ich.
„Jou“, erwidert Robert, „und die Hölle, das
sind die anderen… Nee, nee, was immer die Welt auch ist, wir sollten ihm mit
Gelassenheit begegnen, mit teilnehmender Beobachtung, solange nur das Lämpchen
noch glüht. Da ist meine Mutter philosophischer als du!“
Er sagt, er bemerke
bei mir allgemein eine gewisse Negativität, eine Unzufriedenheit mit meiner
Gesamtsituation, wie ihm scheine. Auch hätten wir die meiste Zeit, seit wir
zusammen sind, über die guten alten Zeiten geredet. Nicht, dass ihm das nicht
gefallen hätte, aber seien wir denn schon so weit, dass die Vergangenheit
wichtiger wird als die Zukunft? Was ich denn noch für Träume hätte?
Enkelkinder? Und sonst? Pensioniert sein und saufen? Wir seien doch noch zu
jung für die Kiste, meint er, da müsse doch noch etwas kommen, etwas
Außergewöhnliches. Seine Aussprache von „s“ und „z“ ist nach wie vor etwas
schwammig, sie hat sich aber auch nicht verschlechtert, und seine Sätze sind
klar und grammatikalisch richtig gebaut. Er habe vor vielen Jahren schon, fährt
er fort, Johann Gottfried Seume gelesen, Spaziergang
nach Syrakus im Jahre 1802, ob ich mir vorstellen könne, wie gefährlich das
damals gewesen sei, mitten in den Napoleonischen Kriegen allein durch ganz Italien
zu laufen. Keiner von Seumes Freunden habe damit gerechnet, ihn jemals lebend wieder
zu sehen. Seume sei klein und eher schmächtig gewesen, aber ein ehemaliger
Soldat und geübter Marschierer, furchtlos und energisch, und er hat es
tatsächlich von Leipzig bis nach Sizilien und wieder zurück geschafft.
Gefährliche Situationen hat er allein durch festes Auftreten und Vorzeigen
seines Knotenstocks bewältigt. Sei es 1802 ein lebensgefährliches Unternehmen
gewesen, den ganzen Stiefel zu Fuß zu durchqueren, so sei es heute im Vergleich
dazu wohl tatsächlich ein Spaziergang und sein größter Traum, das einmal zu
machen. Ob ich denn mitkommen würde, falls er es finanziell jemals auf die
Reihe kriegen sollte? Von Isoldes Geld würde er es natürlich nicht unternehmen,
das verstehe sich von selbst... Ach, wenn es ihm doch nur gelänge, an seine
früheren Erfolge anzuknüpfen! Wenn man doch einen Bestseller schreiben könnte,
einen Harry Potter oder einen Krimi
vielleicht, Tod im Orchestergraben oder
so etwas Ähnliches!
Vielleicht bin ich mehr
vom Wein beeinflusst, als ich dachte, von der allgemein gelösten Stimmung, der
Heiterkeit auf der Hütte, aber mir gefällt die Idee auf Anhieb. Ich bin ein
einigermaßen geübter Wanderer, auch wenn ich dabei gern ins Schnaufen komme, trotzdem
würde ich mir auch größere Strecken durchaus zutrauen, und erhöhter Blutdruck,
Kurzatmigkeit, Übergewicht, das wären nach einer solchen Reise wohl für eine
Weile keine Themen mehr. Auch neue Perspektiven könnte ich gut gebrauchen. Mein
Leben besteht zu großen Teilen aus COBOL, SAS und PL Zwo, antiquierten
Programmiersprachen, die die Jungen nicht mehr beherrschen und mit denen ich
meinen Lebensunterhalt bestreite, als Flickschuster abgenutzter Uraltprogramme
sozusagen. Doch auch mir würde es finanziell schwerfallen, eine längere Auszeit
zu nehmen, schließlich laufen die Kosten für das Haus, das Auto und die Kinder
weiter, auch wenn Vera schon lange aus dem Unterhalt raus ist. Es ist ja leider
so, dass sie von ihrem Job als Comic-Übersetzerin kaum existieren kann, und
Marie wird sicher noch ein, zwei Jahre studieren, da kann ich den Geldhahn nicht
einfach zudrehen.
„Ein halbes Jahr“, fährt Robert fort, „mehr würde
es gar nicht brauchen. Zurück nehmen wir den Zug. Man muss ja dem alten Seume
nicht alles nachmachen. Aber stell dir die Eindrücke vor! Das Essen! Die Weine!
Alle zwanzig Kilometer ändert sich in Italien die Küche. Genau so viel, wie man
in unserem Alter an einem Tag wohl zurücklegen könnte…“
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