Freitag, 10. November 2017

Spaziergang nach Syrakus im Jahr 2017, ein kleiner Auszug...

This is a little excerpt from my planned book. Unfortunately, I do not think that I'll be able to translate it adequately into English, but it tells the story how Robert and Bernd get drunk on a Pfälzerwaldhütte in the forest and talk about a "stroll to Syracuse" for the first time. The year is 2013 and it will take them four more years to get started, but in 2017, they'll take off...



Robert ist in die Hütte gegangen, Nachschub holen, und solange er weg ist, ziehe ich an meinem kubanischen Zigarillo und schaue hinaus in die Ebene. Ich gönne mir nicht mehr viel Luxus dieser Tage, Bücher bestelle ich meist gebraucht (das Internet ist ja voll von billigen und billigsten Angeboten ab einem Cent plus Versandkosten), außerdem fahre ich ein sehr kleines Auto, neue Kleider kaufe ich selten, und meinen Wein beziehe ich aus dem Supermarkt oder von meinem Lieblingswinzer in Sankt Martin, gleich gegenüber dem kleinen Häuschen mit dem großen Garten, das ich 1987 gekauft habe und das Schröder – Möge der Blitz ihn beim Scheißen treffen! – 1993 so liebevoll renoviert hat und nun mit Karoline bewohnt. Aber zwanzig Euro gebe ich zwei- bis dreimal die Woche für meine Cohiba White Club aus, und sie sind es mir wert. Ich rauche die ersten zwei, drei Züge auf Lunge, danach begnüge ich mich mit Paffen. Kühl und erdig dringt der Rauch in meine Lungen ein, warm und rau kommt er wieder heraus, und ich räkle mich in der Sonne und genieße den Augenblick. Robert muss wohl lange anstehen, obwohl die Mittagessenszeit eigentlich schon vorbei ist. Ich inhaliere noch ein viertes Mal sehr tief und fühle mich angenehm schwer und ein kleines bisschen schwindlig. Die Sonne wärmt mir Arme und Gesicht, wer weiß, vielleicht bekomme ich Mitte September sogar noch einen Sonnenbrand. Meine Freundschaft zu Robert Meyer, so habe ich gerade ausgerechnet, jährt sich am Jahreswechsel zum siebenunddreißigsten Mal. Haben wir uns in diesem Zeitraum auch nur sporadisch gesehen, uns eher selten Briefe oder E-Mails geschrieben, so hat sie doch die Jahre, wie es aussieht, recht gut überstanden. Es herrscht ein Verständnis zwischen uns, wie es wohl nur in sehr alten Kameradschaften vorkommt, dieselbe Einmütigkeit, mit der wir uns damals in den Siebzigern an langen Nachmittagen und Abenden von unserem jeweiligen Studium berichtet haben, die Vorzüge dieser und jener Kommilitonin diskutierten oder gemeinsam durch die Stadt gezogen sind. Nachdem er dann Isolde kennengelernt hatte, geriet unsere Freundschaft naturgemäß ein wenig ins Hintertreffen, ganz verloren haben wir den Kontakt aber nie. Ich habe ihn in den späteren Siebzigern mehrfach in Hamburg besucht, und wenn er bei seinen Eltern in Mannheim war, hat er selbstverständlich auch bei mir vorbeigeschaut. Auch während meiner Ehezeiten haben wir uns hin und wieder getroffen, und während meiner sieben Jahre im Zaubertal blieben wir brieflich in Verbindung, wir schrieben uns drei, vier Mal im Jahr, und manchmal fügte er seinen Schreiben eine Erzählung bei oder auch eine CD von Isolde.

Der Zigarillo ist ausgegangen, aber ein Feuerzeug ist ja unauffällig zuhanden. Ich krame es aus der Tasche, zünde die kurze Cohiba, gerollt von fröhlichen kubanischen Arbeiterinnen, wie ich annehme, unter munterem Gespräch und Chorgesang aus der Oper Carmen, vorsichtig noch einmal an und paffe ein, zwei Züge, bevor ich den Stummel ausgehen lasse und den Rest in die Büsche werfe. Ein Filter ist ja nicht dran, alles ist rein organisch und biologisch abbaubar. Siebenunddreißig Jahre... Ist die Zeit nicht ein ewiges Rätsel? Wenn einer in schlaflosen Nächten durch ein vergittertes Fenster auf den Mond über dem Stacheldraht schaut, sind acht Stunden bis zum Wecken eine kleine Ewigkeit; aber im Rückblick aus dem Herbst des Lebens in die Zeit des Vernunfterwachens sind siebenunddreißig Jahre plötzlich nur ein Klacks. Ich bin noch derselbe wie damals, so kommt es mir vor, aber wenn sich der junge Koslowski von 76 plötzlich in diesem leicht übergewichtigen, schiefen und bei der geringsten Anstrengung wie eine Dampflok schnaufenden Körper wiederfände, er würde wohl tot umfallen vor Entsetzen. Und doch, ich fühle mich kaum anders als damals, denn der sich da fühlt, ist ja der, der sich die ganzen Jahre in allen Situationen und Veränderungen und in allen Aktionen gegen die Mitwelt als Identisches durchgehalten hat und auf den sich heute wie früher als ein Eigenes und Konstantes die ganze Vielfalt der Welt bezieht. Und auch die Anderen beziehen sich auf ihn, wenn sie etwa Guten Morgen, Herr Koslowski sagen oder auch: Hasch du des Programm für die Motorewerke nochmal anschaue könne? Die Anderen sind der Spiegel, sie sind das Korrektiv und Bestätigung zugleich. Immer sind die Anderen schon da, und wenn sie einmal nicht da sind, ist es auch nicht recht. Da ist ja keine Sau nicht drin, pflegte Karoline zu mäkeln, wenn wir ein völlig leeres Restaurant betraten. Waren dagegen nur noch wenige Tische frei, so grummelte sie: Mei, ist das voll hier! Wie es ist, ist es verkehrt, und heute wäre es sicher ganz verkehrt, denn heute ist es richtig voll, Neuankömmlinge haben kaum noch eine Chance, einen Platz im Freien zu ergattern. An meinem Tisch spricht man laut und auf Pfälzisch; eine Vierergruppe weißhaariger Pensionisten, die Männer in Knickerbockern und karierten Wanderhemden, die Frauen trotz der Wärme in reißverschlussgeschlossenem Fleece. Man ist, was nur recht und billig ist an so einem schönen Tag und in so einer schönen Umgebung, der allerbesten Laune und gibt sich der Entspannung hin. Die Jugend wird, bei allen erstaunlichen Computerkenntnissen, die sie besitzt, unseren kulturellen Standard nicht halten können. Diesen letzten Halbsatz fanden ja schon die Assyrer wert, auf Tonscherben festgehalten zu werden, und auch in Ägypten findet er sich in den entsprechenden Hieroglyphen. Man hat es also schon immer gewusst. Die Butter ist wieder teurer geworden, und auch die Schorle auf der Hütte war schon einmal billiger, früher drei Mark fünfzig, heute drei Euro zwanzig. Der Euro ist ein Teuro, da kann die Kanzlerin sagen, was sie will. Man wird aber trotzdem, wie immer, die CDU wählen. Igitt,  wenn das mein Vater wüsste, der eingefleischte Sozialdemokrat! Man spricht vom Essen, vom Urlaub, den Kindern, den allernächsten Alltagsdingen und ist der Vergessenheit ergeben, was die conditio humana betrifft. Man kümmert sich nicht darum, dass das Dasein aussteht ins Nichts wie eine kurze Brücke zwischen zwei dunklen Klüften, sondern man versichert sich, dass die Reise noch lange geht, dass das Leben fest gefügt und ein leichtes ist. Braucht man sich doch nur an das zu halten, was sich gehört, was man tut und was man lässt, an die ganze Durchschnittlichkeit, und das Dasein wird plötzlich einfach in seiner banalen Alltäglichkeit. Jedes Geheimnis verliert seine Kraft. Die Seinsauslegung ist geregelt, man gehört zu der Mehrheit und man hat in allem recht. So isst man und trinkt man und redet laut und überlässt sich fröhlich der vergnügtesten Seinsvergessenheit.  

Und das ist auch gut und schön so. Auch wenn ich nach ein paar Worten der Begrüßung und allgemeiner Bemerkungen über das Wetter deutlich angezeigt habe, dass mir die Kontemplation der Landschaft wichtiger ist als ein Alltagsgespräch, so lasse ich mich doch gerne mittreiben im Getriebe samstäglicher Entspannung, verbringe die paar Stunden mit der alleinigen Sorge um die nächste saure Schorle, und die wird Robert bestimmt gleich bringen. Ich trinke den Rest der vorhandenen aus; sie ist warm und schal geworden. Wie jeder halbwegs vernünftige Mensch hasse ich den Zustand der Volltrunkenheit. Den Zustand davor aber, die Leichtigkeit, die der Alkohol hervorbringt, die vermeintliche Helle, mit der die Welt dann ins Bewusstsein dringt - diesen Zustand liebe ich. Ganz besoffen bin ich selten, „beschickert“ aber eher oft. Ich schaue hinaus in die Ebene und lasse die Vielfalt der Erscheinungen auf mich einwirken. Es ist ein vertrautes Bild, ich weiß, wo Edenkoben liegt, wo Bruchsal ist und wo Mannheim, die Bühler Höhe, die Hornisgrinde, und staune trotzdem immer wieder, wie fremd und unnahbar alles bleibt. Die Welt ist ein Gehirnphänomen. Weiter bin ich auch heute, in meinem einundsechzigsten Jahr und nach über vier Jahrzehnten Beschäftigung mit der Philosophie, nicht gekommen. Den Physikern, so mein völlig unwissenschaftlicher und rein subjektiver Eindruck, zerfällt die Realität unter den Händen in immer kleinere Teilchen, wird immer abstrakter, bis sie vielleicht tatsächlich nur noch aus Gedanken besteht, verstehbar für einen kleinen Kreis von mathematisch und physikalisch Hochbegabten - verstehbar vielleicht, aber nicht mehr erfahrbar. Die Welt ist durchdrungen vom Nichts, wie alles, womit sich der Mensch beschäftigt. Ich habe ein paar populärwissenschaftliche Bücher gelesen und darin nur bestätigt bekommen, dass das Nichts allgegenwärtig ist. Würde man den Kern eines Wasserstoffatoms (etwa aus den paar Tropfen Flüssigkeit, die sich noch in meinem Glas befinden) auf einen Meter Durchmesser vergrößern, so wäre sein zugehöriges Elektron irgendwo hinter Frankfurt oder weit hinter Kaiserslautern, beziehungsweiße hundert Kilometer in der Luft oder im Boden, man kann ja nicht einmal den Ort genau bestimmen. Und zwischen Proton und Elektron ist das schiere Nichts, die Leere, die überall herrscht: Das ist die Situation des Menschen, die Welt, und alles menschliche Denken, davon bin ich überzeugt, ist davon geprägt, von einem Dasein, das aus dem Nichts kommt, vom Nichts durchdrungen ist und wieder im Nichts vergeht.

   „Die sind da drin noch verrückter als du. Ich hoffe, wir haben noch Sprudel.“

Ich habe Roberts Kommen gar nicht bemerkt. Er hat ein großes, viereckiges Tablett auf den Tisch gestellt, darauf zwei frische Schorle, eine Portion Schwartenmagen mit zweimal Besteck und Brot und zwei Päckchen Senf dazu. In der Schorle, sagt er, befinde sich kaum Sprudelwasser. Offenbar müsse der Pfälzer Waldverein am sauren Wasser sparen. Er setzt sich, teilt das Besteck und die beiden Getränke aus, und wir schlagen die Gläser aneinander. Dieses Mal blick er mir dabei in die Augen, man will ja nichts riskieren. Wir trinken je einen kleinen Schluck, und ich fülle die Gläser mit Mineralwasser wieder auf. Robert belegt zwei Brote mit Schwartenmagen, wir nehmen je eins, bestreichen es mit Senf, ich drücke noch ein paar Gurkenscheiben hinein, beiße ab und kaue.

   „Ich habe eine tote Wissenschaft studiert“, sage ich mit vollem Mund, „so tot wie die Astrologie, die Schädellehre oder die Alchemie. Die Erklärung der Welt obliegt heute ganz den Naturwissenschaften. Schau dir den Baum dort an! Eine feste Struktur, die hart ist und lichtundurchlässig. Man kann einen Anlauf nehmen und sich den Schädel daran einrennen. Trotzdem besteht er zum allergrößten Teil aus leerem Raum, in dem sich ein paar Teilchen nach physikalischen Gesetzen tummeln. Geronnene Energie, wie der Kollege Willy sagt. Die Welt ist wahrscheinlich nichts weiter als ein paar mathematische Formeln, hineingeschrieben in einen Hintergrund aus Nichts.“

   „Die Welt ist alles, was der Fall ist“, sagt Robert kauend, hundert Jahre Philosophiegeschichte munter durcheinander werfend, „das Leben ist eine missliche Sache, und ich habe mir vorgesetzt, das meinige damit hinzubringen, selbiges möglichst exakt zu beschreiben.“

   „Die Welt ist hineingeschrieben in einen Hintergrund aus Nichts“, beharre ich.

   „Jou“, erwidert Robert, „und die Hölle, das sind die anderen… Nee, nee, was immer die Welt auch ist, wir sollten ihm mit Gelassenheit begegnen, mit teilnehmender Beobachtung, solange nur das Lämpchen noch glüht. Da ist meine Mutter philosophischer als du!“

Er sagt, er bemerke bei mir allgemein eine gewisse Negativität, eine Unzufriedenheit mit meiner Gesamtsituation, wie ihm scheine. Auch hätten wir die meiste Zeit, seit wir zusammen sind, über die guten alten Zeiten geredet. Nicht, dass ihm das nicht gefallen hätte, aber seien wir denn schon so weit, dass die Vergangenheit wichtiger wird als die Zukunft? Was ich denn noch für Träume hätte? Enkelkinder? Und sonst? Pensioniert sein und saufen? Wir seien doch noch zu jung für die Kiste, meint er, da müsse doch noch etwas kommen, etwas Außergewöhnliches. Seine Aussprache von „s“ und „z“ ist nach wie vor etwas schwammig, sie hat sich aber auch nicht verschlechtert, und seine Sätze sind klar und grammatikalisch richtig gebaut. Er habe vor vielen Jahren schon, fährt er fort, Johann Gottfried Seume gelesen, Spaziergang nach Syrakus im Jahre 1802, ob ich mir vorstellen könne, wie gefährlich das damals gewesen sei, mitten in den Napoleonischen Kriegen allein durch ganz Italien zu laufen. Keiner von Seumes Freunden habe damit gerechnet, ihn jemals lebend wieder zu sehen. Seume sei klein und eher schmächtig gewesen, aber ein ehemaliger Soldat und geübter Marschierer, furchtlos und energisch, und er hat es tatsächlich von Leipzig bis nach Sizilien und wieder zurück geschafft. Gefährliche Situationen hat er allein durch festes Auftreten und Vorzeigen seines Knotenstocks bewältigt. Sei es 1802 ein lebensgefährliches Unternehmen gewesen, den ganzen Stiefel zu Fuß zu durchqueren, so sei es heute im Vergleich dazu wohl tatsächlich ein Spaziergang und sein größter Traum, das einmal zu machen. Ob ich denn mitkommen würde, falls er es finanziell jemals auf die Reihe kriegen sollte? Von Isoldes Geld würde er es natürlich nicht unternehmen, das verstehe sich von selbst... Ach, wenn es ihm doch nur gelänge, an seine früheren Erfolge anzuknüpfen! Wenn man doch einen Bestseller schreiben könnte, einen Harry Potter oder einen Krimi vielleicht, Tod im Orchestergraben oder so etwas Ähnliches!

Vielleicht bin ich mehr vom Wein beeinflusst, als ich dachte, von der allgemein gelösten Stimmung, der Heiterkeit auf der Hütte, aber mir gefällt die Idee auf Anhieb. Ich bin ein einigermaßen geübter Wanderer, auch wenn ich dabei gern ins Schnaufen komme, trotzdem würde ich mir auch größere Strecken durchaus zutrauen, und erhöhter Blutdruck, Kurzatmigkeit, Übergewicht, das wären nach einer solchen Reise wohl für eine Weile keine Themen mehr. Auch neue Perspektiven könnte ich gut gebrauchen. Mein Leben besteht zu großen Teilen aus COBOL, SAS und PL Zwo, antiquierten Programmiersprachen, die die Jungen nicht mehr beherrschen und mit denen ich meinen Lebensunterhalt bestreite, als Flickschuster abgenutzter Uraltprogramme sozusagen. Doch auch mir würde es finanziell schwerfallen, eine längere Auszeit zu nehmen, schließlich laufen die Kosten für das Haus, das Auto und die Kinder weiter, auch wenn Vera schon lange aus dem Unterhalt raus ist. Es ist ja leider so, dass sie von ihrem Job als Comic-Übersetzerin kaum existieren kann, und Marie wird sicher noch ein, zwei Jahre studieren, da kann ich den Geldhahn nicht einfach zudrehen.

   „Ein halbes Jahr“, fährt Robert fort, „mehr würde es gar nicht brauchen. Zurück nehmen wir den Zug. Man muss ja dem alten Seume nicht alles nachmachen. Aber stell dir die Eindrücke vor! Das Essen! Die Weine! Alle zwanzig Kilometer ändert sich in Italien die Küche. Genau so viel, wie man in unserem Alter an einem Tag wohl zurücklegen könnte…“


* *
*


...und ein bisschen Werbung zum Abschluss:

Ein Buch habe ich bereits bei Draupadi in Heidelberg veröffentlicht (in jeder Buchhandlung oder auch bei amazon bestellbar):






Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Letzter Tag in Cefalù Last Day in Cefalù Wir sind uns einig, dass Cefalù ein wunderbarer "Rausschmeißer" ist. Wir finden au...